Pathos für Patina

Das Viertel rüstet sich für eine open-air-party mit Kunst und Kultur. Ein paar Meter weiter schlafen die rumänischen, tschechischen, slowakischen und serbischen Busfahrer schon hinter getönten Scheiben. Bisher war das Interesse an diesen Abstellflächen eher mäßig. Hinter hohen Gitterzäunen verbellt ein Wachhund jeden, der sich seiner Gebrauchtwagenherde unrechtmäßig nähert. Die alten Lagerhäuser tragen ihre Backsteinpatina mit schmutziger Gelassenheit. Schriftzüge blättern ab und verleugnen die geschäftige Vergangenheit hinter ihren Wänden. Alles ist ein bisschen von gestern. Unkräuter und Rost haben sich Flächen erobert.

Clubbesitzer haben die Anziehungskraft des industriellen Wasserbeckens, genannt Hafen, früh erkannt. Fast kitschig schön die Atmosphäre, wenn sich Lichter im Wasser spiegeln, der helle Sand und Palmen an Urlaubsorte erinnern- und einem das Partyschiff suggeriert, man hätte hier jederzeit die Möglichkeit, in der Ferne zu verschwinden. Das ausgehende Licht verbreitet einen großen Zauber. An der Wasserfläche ist es frei, wird nicht von Hauswänden geschluckt sondern kann die Szenerie in rötliche Dramatik tauchen. Das Hafenamt stammt noch aus der Zeit, als Nutzbauten auch schön sein durften, schnörkelig beeindruckend. Zu dieser Abend-Zeit hat der Hafen eine Silhouette. Klar hebt sie sich gegen die ruhig daliegende Wasserfläche ab. Auch auf der gegenüberliegenden Seite hat ein Club seine Lichterketten gespannt. Loungemusik. Gepaart mit dem Geschnatter einer Ente.

Dieser Moment ist kostbar, weil es ihn so bald nicht mehr geben wird. Das unsensibel große Schild des Tiefbauamtes verkündet, wie es hier weitergeht. Diese Freifläche am Wasser, früher einmal mit Sand und Liegestühlen als erster Beachclub der Stadt bestaunt, im letzten Jahr noch brach liegend von Un-Kräutern gesäumt, ist schon asphaltiert. Es werden neue Rohre verlegt. Und eine Fahrbahndecke aufgebracht. Im Gegenzug wurde  die Hälfte des Kopfsteinpflasters, diese bucklige, alte Zumutung, herausgerissen. In den restlichen vom vielen Gebrauch geschliffenen Steinmulden scheint sich noch ein bisschen Restlicht zu fangen. Bald werden die nutzlos, mit Efeu zugewucherten Backsteingebäude mit zersprungenen Fensterscheiben und rostigen Zauneinfassungen oder bröckeligen Mauerpfosten verschwinden.

An ihre Stelle tritt etwas Modernes. Glattes. Funktional- Repräsentatives. Vermutlich mit Glasfassaden. Ungenutzte Flächen und Gebäude, die bisher Kunststudenten’s Fantasie beflügeln werden effektiv genutzen Räumen weichen. Mit Gastronomieangeboten. Überplant. Erstaunlich. Dass es sich immer noch nicht herumgesprochen hat, worauf der Charme eines alten Quartiers besteht- bald bestand. Städteplaner in Hamburg haben die Hafencity errichtet, aber Filmproduktionsfirmen und Hochzeitsgesellschaften sehnen sich nach der brüchigen Rest- Fassade alter, noch nicht entsorgter Nutzgebäude. Mit Rampen, metallgefasst. Mit Holz- und Stahltüren auf denen noch alte Warnhinweise aufgemalt wurden. Grüße aus der Geschichte der Stadt. Offensichtliche Fehlstellen.

Es ist hier ebenso,  unwiderruflich wiederholt sich der Ausverkauf des Bestehenden, die Verdrängung durch: das Neue. Die Nutzung, bis zum letzten Quadratmeter, die „Schickifizierung“ des Lebens-Umfelds. Die Menschen zieht es in ein Hafenviertel, zum Schauen. Es ist bunt, improvisiert, unperfekt, multikulturell. Lebendig. Und unkonventionell. Also wird es interessant. Geld fließt in vielversprechende Projekte. Es wird modernisiert. Und Mensch wendet sich enttäuscht ab, sucht sich neue, alte und ungenutzte Flächen, die seine Fantasie beflügeln. Macht ein Lagerfeuer auf einer Restgrünfläche mit Blick auf die Spundwände des Kanals, bis dort Flatterband weht und zwei neue Bürotürme errichtet werden. Für effektiv viele Arbeitsplätze. Mit Parkraum.

Als neues Eintrittstor markieren die Hochhäuser dann das Quartier. In dessen renovierte Mietwohnungen bald die Büroarbeiter einziehen, weil die Mieten zu hoch für die sozial schwachen alten Bewohner geworden sind, die es nicht geschafft haben, ihre Lebenszeit so effektiv zu nutzen, dass ihr Kapital nach 20 Jahren Arbeitsleben für ein Häuschen am Stadtrand reicht. Oder für eine Mietwohnung im aufstrebenden Quartier.

In 100 Jahren wird es vielleicht wieder einmal spannend werden im Hafen-Viertel, wenn die bald wohl errichteten Gebäude ordentlich auseinanderfallen. Die Büros standen dann zu lange leer. Dank moderner Datenbank-Roboter brauchte niemand mehr Buchhalter und Logistik-Fachleute. Die Arbeit wurde in klimatisierte Serverräume ausgelagert. Die Besitzer konnten die Bürogebäude nicht mehr in Stand halten. Die Elektrik zerstört und total veraltet. Mit Moos überzogener Beton und blinde Glasfassaden, große Rissen im Sicherheitsglas sowie verbeulten Bistro-Tische aus Edelstahl, auf denen früher die Sekretärinnen in der Mittagspause ihre Instagram Fotos verschickten- sie werden dann wieder vorübergehend als Fotomotive im Sonnenuntergang zur Geltung kommen. Fassadenkünstler klettern dann spinnengleich an den einsturzgefährdeten Bürotürmen. Neuartige Skateboards fliegen über die Schlaglöcher im Asphalt. Graffitis ähneln denen an den Backsteinmauern von vor 100 Jahren. Es wiederholt sich.. Vielleicht.